Prozessbericht: Freispruch für Lippenstift

Am 03.05.2018 gab es im Amtsgericht Görlitz einen Prozess. Der Vorwurf war das ein Mensch mit Lippenstift „Free All Prisoners“ an das Gerichtfenster gemalt haben soll und sich im Anschluss geweigert haben soll dies wieder zu entfernen.

Das Verfahren endete nach einem absurden Prozess mit einem „Freispruch dritter Klasse“ (Zitat des Richters nach der Urteilsverkündung).
Nachdem der Beschuldigte den Großteil der Akte erst eine Stunde vor Prozessbeginn einsehen konnte, begann die eigentliche Verhandlung damit, dass der neben dem Beschuldigten sitzende Verteidiger in den Zuschauerraum verwiesen wurde.
Es folgte die Personalienaufnahme des Angeklagten. Dieser erwähnte dabei, dass er lieber mit männlichen Pronomen angesprochen werden möchte und legte dem Richter neben seinem Personalausweis auch den dgti-Ergänzungsausweis vor. Der Richter bezeichnete den Ergänzungsausweis als ungültig und weigerte sich hartnäckig, den Beschuldigten richtig zu gendern. Er begründete dies damit, dass er früher selbst Personenstandsänderungsverfahren geführt habe, dieses bei dem Beschuldigten noch nicht durch sei und der Richter nur beachten werde, was im Personalausweis steht.
Danach wurde der Antrag auf Laienverteidigung zugelassen, bevor er vorgelesen werden konnte.
Ein Befangenheitsantrag wegen unzureichender und zu kurzfristiger Akteneinsicht wurde direkt ohne weitere Begründung abgelehnt. Das Einzige, was der Richter dazu zu sagen hatte, war, dass das richtige Gendern des Beschuldigten in dem Antrag eine „Irreführung des Gerichts“ sei. Der darauf folgende Befangenheitsantrag wegen Trans*feindlichkeit wurde gar nicht mehr behandelt.
Es folgten einige leicht skurrile Fragen des Richters an die Verteidigung. Doch fragte der Richter nicht nach Tataussagen, sondern nach der Aktenkenntnis des Beschuldigten und Verteidigers. In einem längeren Rechtsgespräch mit der Vertreterin der Bußgeldbehörde nahm der Richter einen Beweisantrag der Verteidigung vorweg, indem er argumentierte, dass der vorgeworfene Paragraph nicht anwendbar sei.
Der Beschuldigte verlas dann den entsprechenden Beweisantrag, nachdem betont wurde, dass dieser nur dazu diente, die Argumentation protokollfest zu machen.
Mittendrin wurde er vom Richter unterbrochen: „Was wollen Sie? Freispruch oder eine Verurteilung? – Ich hab Ihnen schon so viele Hinweise gegeben, ich schließe dann jetzt die Beweisaufnahme und dann können Sie Anträge stellen“ – Bevor wir verstanden, dass er die Plädoyers meinte, verging einige Zeit. Die daraufhin nötige Pause der Verteidigung, um zu beraten, ob sie auf unseren Beweisanträgen bestehen und darauf, ausführlich zu plädieren oder ob sie mitspielen, wollte er nicht genehmigen. Unter dem entsprechenden Druck wurde beschlossen, mitzuspielen.
Tatsächlich wurde unmittelbar ein Freispruch verkündet. Der Richter betonte dabei, dass er den Termin anberaumt habe, da er vorher nicht gewusst habe, ob der Bußgeldbescheid sinnvoll sei. Nach dem Urteil erfolgte „außerhalb des Protokolls“ die Belehrung, der Beschuldigte möge sich mal Gedanken über sein Auftreten in der Öffentlichkeit und über den Aufwand, den er betreibe. Er solle außerdem nicht mit dem Freispruch prahlen, denn der sei wegen des Verhaltens „zweiter oder dritter Klasse“.
Zur Feier des Freispruchs verteilte der Beschuldigte noch im Gerichtssaal kostenlose Lippenstifte an das gesamte Publikum. Ob der anwesende Pressevertreter einen genommen hat, ist nicht bekannt.

Mit Handschellen gegen Lippenstifte

Folgender Text war bis zum Verbot auf der Plattform indymedia.linksunten zu finden.

Ein Kommentar zur „Rallye gegen Knast und Strafe“ am 28. Juli 2017

Am Freitag, dem 28. Juli, fand in Görlitz eine angekündigte „Rallye gegen Knast und Strafe“ statt. In Reaktion darauf waren bei der Sächsischen Zeitung und im Netz empörte Artikel zu finden, die von „Chaoten“ sprechen und das Faetzig-Camp hinter der ganzen Sache sehen. Als Menschen, die bei der Rallye teilgenommen haben, möchten wir unsere Sicht der Ereignisse schildern.

Zur der Rallye war nicht vom Faetzig-Camp aufgerufen worden, auch die Vorbereitung war vom Camp unabhängig. Dass ein Teil von uns auch an dem Wochenende das Faetzig-Camp besuchte, gibt dem Camp keine Verantwortung für die Rallye. Im Gegenteil: wir freuen uns, dass Menschen eigenverantwortlich politisch aktiv wurden, ohne eine Organisation im Rücken zu haben.

Wir haben an der Rallye in Görlitz teilgenommen, um auf die alltägliche Gewalt dieser Gesellschaft aufmerksam zu machen. Wie überall in Deutschland leben wir auch und in gerade einer so „ruhigen“ Stadt wie Görlitz in Verhältnissen, die durch Belohnung und Bestrafung befriedet werden. Für viele Menschen, die als normal gelten, zum Beispiel weil sie einen deutschen Pass oder eine Arbeit oder genug Geld haben, scheint dieses System aushaltbar. Aber diejenigen, die nicht zum deutschen „Wir“ der Normalen zählen, müssen tagtäglich Gewalt erfahren, sie werden gegängelt, übergangen, bedroht und fertig gemacht. Diese Gewalt findet nicht offen statt, sondern ist verborgen hinter Bürokratien und den Mauern schmucker Gründerzeitvillen.

Mit der Rallye wollten wir auf diese Verhältnisse aufmerksam machen und sie mit einfachen und harmlosen kreativen Mitteln – Kreide, Lippenstift und Konfetti – für einen Moment in Stocken bringen. Wir haben fünf Orte ausgesucht, die exemplarisch für die Gewalt des deutschen Staates stehen: Die Polizei, das Jobcenter, das Landratsamt, die Ausländerbehörde und das Amtsgericht mit dem Gefängnis. Und einige Teilnehmende besuchten spontan noch einen Ort, der sich die pure Menschenverachtung hässlich ins Gesicht geschrieben hat, das AfD-Büro.

Die Reaktion des Staates und der AfD war so erschreckend wie bezeichnend: Auf Kreideschiftzüge wurde mit Beschimpfung und Bedrohung, auf Konfetti mit Verhaftung und auf Lippenstiftmalereien mit Anzeigen reagiert. Verhältnismäßigkeit und die Einhaltung von Grundrechten? Fehlanzeige. Das Verhalten der Polizei? Genauso autoritär und selbstherrlich wie in der DDR. Die Polizei hat in der Verfolgung von Rallye-Teilnehmenden umstehende Passanten verletzt, willkürlich in der ganzen Stadt Personenkontrollen durchgeführt und sieben Menschen bis in den Abend in Gewahrsam genommen und unrechtmäßig abfotografiert. Im AfD-Büro wurden Rallye-Teilnehmende von Mitarbeitern körperlich angegriffen und verletzt.

Das Verhalten der Polizei zeigt uns, wie sehr wir mit unserer Kritik an den Verhältnissen Recht haben, weil die einzige Antwort des Staates auf Menschen, die nicht tadellos nach seinen Regeln spielen, Gewalt ist. Dass die Medien in ihrer Berichterstattung der AfD nach Mund reden und nur von „randalierenden Chaoten“ schreiben, zeigt, wie wenig demokratisches Bewusstsein auch sie haben. Der Tag zeigt uns aber auch, wie wenig Menschen mit wie einfachen Mitteln es braucht um Behörden und Polizei zu binden und den scheinbaren Frieden einer Kleinstadt durcheinander zu bringen.

Anti-Knast-Camp/Anti-prison-camp

***english version below***

Auf dem diesjährigen Faetzig-Camp werden wir eine Themenreihe zu Knast und Strafe veranstalten. Momentan sind wir noch dabei die Workshops und das Rahmenprogramm zu organisieren. Sobald es weitere Infos gibt werden sie hier veröffentlicht.

***english***

We are preparing a series of events on the issues of prisons and punishment at this year’s Faetzig-Camp. We are still in the process of organising workshops and the general programme. As soon as there are more infos they will be published here.